So wie in der alten BRD fast jeder den Namen Benno Ohnesorg kannte,
den Studenten, der während der Proteste gegen den Schahbesuch am 2. Juni
1967 in Westberlin erschossen wurde, so allgemein bekannt und geachtet
war in der DDR der Name des jungen Grenzsoldaten Egon Schultz, der in
der Nacht zum 5. Oktober 1964 an der Berliner Mauer von Westberliner
Fluchthelfern "meuchlings ermordet" wurde. Erst elf Jahre nach dem Fall
der Mauer wird im Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit der
Obduktionsbericht gefunden. Er belegt eindeutig, dass der tödliche
Schuss nicht von Fluchthelfern, sondern aus der Kalaschnikow eines
seiner eigenen Kameraden abgefeuert wurde. Eine in mehr als drei
Jahrzehnten aufgebaute Märtyrer-Legende war damit gestorben. Der
Rostocker Schriftsteller Michael Baade war mit Egon Schultz bekannt und
befreundet. Beide besuchten vom 1. September 1960 an das Institut für
Lehrerbildung in Putbus auf der Insel Rügen. Nach dem Abschluss des
Studiums werden beide als Lehrer in Rostocker Schulen eingestellt und
übernehmen jeweils ein dritte Grundschulklasse. Während Michael Baade
seine Tätigkeit als Lehrer fortsetzen kann, wird sein Kollege zum 2.
November 1963 zum Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee eingezogen. Er
wird seit Weihnachten 1963 als Grenzsoldat an der Berliner Mauer
eingeteilt, weil aufgrund des "Passierscheinabkommens" zum ersten Mal
seit dem Bau der Mauer Westberliner die Möglichkeit zum Verwandtenbesuch
in Ostberlin erhalten. Dadurch werden an den Kontrollpunkten
zusätzliche Einsatzkräfte benötigt. Egon Schultz versieht seinen Dienst
an der Grenze allenfalls pflichtbewusst, aber keinesfalls eifrig. Er ist
kein Scharfmacher und kein potentieller Mauerschütze. Er ist
norddeutsch bedächtig und hat während seines Einsatzes keinen einzigen
Schuss abgegeben. Fast ein halbes Jahrhundert später hat Michael Baade
seinem Jugendfreund ein ebenso anrührendes wie politisch
aufschlussreiches, von Eva-Maria Bartsch einfühlsam gestaltetes
Gedenkbuch gewidmet, das sich durchaus mit den Erinnerungen des
Münchener Schriftstellers Uwe Timm an seinen einstigen Schulfreund Benno
Ohnesorg vergleichen lässt. Michael Baades Dokumentation gliedert sich
in drei annähernd gleichgewichtige Teile. Im ersten Teil versammelt er
zahlreiche private Lebenszeugnisse, Briefe und Erinnerungen. Sie zeigen
seinen Studien- und Lehrerkollegen keineswegs als strammen Genossen, wie
die DDR-Propaganda später berhauptet, sondern als aufrichtigen,
gradlinigen, etwas schüchternen und ein wenig peniblen jungen Mann aus
kleinen Verhältnissen, der seinen Lehrerberuf mit Hingabe ausübt. Er
bleibt auch während des Wehrdienstes mit seinen Schülern und
Schulkollegen in Kontakt. Im zweiten Teil dokumentiert Michael Baade den
Kult, der in der DDR um Egon Schultz inszeniert wurde. Brigaden,
Betriebe, Truppenverbände, Schulen und andere Institutionen trugen
seinen Namen. Es gab 118 Namensträger, deren Vertreter sich regelmäßig
trafen. Egon Schultz zum Lob wurden Lieder, Gedichte und ein Kinderbuch
geschrieben. In seinem dritten Teil befasst sich Michael Baade mit der
Aufarbeitet des Falls seit der Wiedervereinigung und dem Bekanntwerden
der wahren Todesursache. Erst nach der Öffnung der Stasi-Archive ließen
sich die genauen Umstände rekonstruieren, die zu dem Schusswechsel
zwischen den Fluchthelfern und den Grenzschützern führten. Nach dem
Mauerfall wurden zunächst alle Erinnerungstafeln beseitigt. Fast vierzig
jahre nach dem tragischen Tod seines Freundes setzt sich Michael Baade
für die Errichtung einer neuen Gedenktafel am Haus in der Strelitzer
Straße 55 ein. Der kurze Text schildert den Vorgang nach dem heutigen
Erkenntnisstand und wird Egon Schultz gerecht. Es dürfe, so Joachim
Gauck bei der Enthüllung der Tafel, "keine Opferhierarchie" geben, allen
"Mauertoten", auch Egon Schultz, gebührt ein ehrendes Gedenken.
Michael Baade, ein Jugendfreund von Egon Schultz, berichtet aus
persönlichem Erleben, Briefen und Dokumenten vom kurzen Leben und der
Tragik dieses Maueropfers.