Stefan Wolter
Sehnsuchtssonate: Liebesbriefe im Kalten Krieg
Liebste Gisa! Am liebsten würde ich mit Dir allein in den Bergen rumklettern oder in Wäldern Versteck spielen oder auf dem Wasser rumtummeln, aber dort, wo man keine Mauern ziehen kann, die einem die Freiheit beschränken", ruft der 19-jährige Heinz seiner Freundin Gisela im Jahr 1950 zu. Doch es bleiben nur die Briefe – wochenlang, monatelang. „Es bricht manchmal so aus mir hervor, dass ich laufen möchte, bis ich bei Dir bin", fleht Gisela und setzt sich ans Klavier, um sich daran auszutoben. Und sie droht: „Wenn Du nächste Woche nicht kommst, spiele ich das Deutschlandlied!!!" Den Stacheldraht kann sie nicht bezwingen. Heinz gehört zu jenen, denen im entstehenden Arbeiter- und Bauernstaat eine glänzende Zukunft in Aussicht gestellt wurde. Doch aus sieben Monaten Vorbildung und Körperertüchtigung wird schließlich ein fremdbestimmtes Leben in den Reihen der Nationalen Volksarmee.
1961 befehligt Heinz die Panzertruppe Prora nach Berlin – zum Mauerbau. Der vorliegende Briefwechsel ist eine Sensation. Über 15 Jahre hinweg lässt er Anteil nehmen am Denken und Fühlen eines Paares, dessen Träume und Ideale inmitten des Kalten Krieges instrumentalisiert und zum Teil zerstört werden. Gisela und Heinz gründen eine Familie, doch Heinz wird immer wieder versetzt – Liebe und Nähe spielen sich oft genug nur in Zeilen ab. Hautnah spürbar wird die Atmosphäre der Jahre zwischen 1949 und 1964 – ob in Eggesin, Prora, Binz oder in Dresden.
Historiker Dr. Stefan Stadtherr Wolter hat die Korrespondenz profund in ihrer Zeit situiert. Die einzigartigen Einblicke in die Welt eines ranghohen Offiziers der NVA und seiner Lebensgefährtin werfen die Frage nach dem Umgang mit ostdeutschen Biografien jenseits der Wegbereiter der Friedlichen Revolution auf. Im Vorfeld des Jubiläumsjahres 2019 widerspricht Wolter einmal mehr der Erinnerungskultur im wiedervereinigten Deutschland, das einen Teil seiner Geschichte tilgt und vergisst und somit den Kalten Krieg herunterspielt. Bezüglich der einstigen Militärstandorte Prora und Eggesin wartet er mit überzeugenden Erkenntnissen auf.