Deutsche Teilung, Repression und Alltagsleben.

Artikel-Nr.: 3931801314
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Das Gespräch mit Lehrerinnen und Lehrern am (grünen) Tisch ist oft von theoretischen Erwägungen, skeptischen Anwürfen und abweisenden Verallgemeinerungen bestimmt. Dasselbe sieht am authentischen Ort schon ganz anders aus. Hier folgen oft Schweigen, Nachdenklichkeit, quälende Fragen und manchmal ein innerer Orkan, der die eigenen Blockaden einfach hinwegfegt." So beschreibt Christoph Kleemann, Leiter der Außenstelle Rostock der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen die besondere Wirkung von Erinnerungsorten. Diese Einschätzung stammt aus dem von Heidi Behrens und Andreas Wagner vorgelegten ersten Überblick zu Orten in den fünf östlichen Bundesländern, die an Repression und Alltag in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR erinnern. Ihnen geht es nicht allein um Gedenkstätten, an denen der Opfer gedacht werden kann, sondern auch um Einrichtungen und Projekte, in denen andere Aspekte des Lebens in der SBZ/DDR vergegenwärtigt werden können: zeitgeschichtliche Museen, Geschichtswerkstätten oder Archive. Die 25 Beiträge des Sammelbandes wollen die Leser mit wichtigen Themen und Forschungskontroversen innerhalb dieser Erinnerungslandschaft bekannt machen. Die Veröffentlichung ist ein Ergebnis des Projekts „Erinnerungsorte der SBZ- und DDR-Geschichte", das 2001/02 vom Bildungswerk der Humanistischen Union Nordrhein-Westfalen und dem Schweriner Verein „Politische Memoriale" durchgeführt wurde. Den Kern dieses Projekts bildeten sechs Seminare an Orten bzw. in Einrichtungen, die sich mit zentralen Themen der SBZ/DDR beschäftigen. Ziel der Seminare war es, gemeinsam mit west- und ostdeutschen Multiplikatoren historischer Bildungsarbeit Konzepte der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte kennen zu lernen, zu erproben und zu diskutieren. Vor dem Hintergrund, dass es noch keinen Konsens in der Beurteilung der Geschichte der SBZ/DDR in Ost und West gibt, wie Bernd Faulenbach in seinem Beitrag feststellt, bildete diese deutsch-deutsche Seminarmischung offensichtlich eine reizvolle und diskussionsfördernde Konstellation. In ihrem Bericht schildern die Projektleiter Behrens und Wagner, wie unterschiedliche Erfahrungen, Stereotype und Vorurteile teilweise sehr emotional aufeinander prallten. Das Buch besteht aus zwei Hauptteilen: einem allgemeinen, in dem verschiedene Aspekte der Erinnerungsarbeit an diesen Orten theoretisch reflektiert werden, und einem konkreten, in dem einzelne Orte bzw. Einrichtungen vorgestellt werden. Einleitend geben die Herausgeber einen dichten Überblick zu den Problemen der DDR-Erinnerungsorte und den mit ihnen verbundenen Themenkomplexen: Gefängnishaft, Flucht, Grenzregime, Überwachung, Widerstand und Opposition, Alltagsleben, Orte mit so genannter „doppelter Vergangenheit", Umgang mit dem Erbe des DDR-Antifaschismus. Annette Leo reflektiert auf der Basis eigener empirischer Studien vor allem die Unterschiede im Geschichtsbewusstsein von Ost- und Westdeutschen bezüglich der DDR- wie auch der NS-Vergangenheit. Bodo von Borries nähert sich auf anregende Weise der Frage, warum Geschichtslernen so schwierig ist, und führt die Leser dabei in ein Labyrinth geschichtsdidaktischer Ansätze, aus dem man nur schwer wieder herausfindet. Thomas Lutz blickt in seiner Funktion als Koordinator der Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und Mitglied verschiedener Gedenkstättenbeiräte auf die Entwicklung der SBZ/DDR-Erinnerungsorte zurück. In seinem Beitrag spiegeln sich auf exemplarische Weise das Misstrauen und das Unbehagen der westdeutschen Gedenkstättenszene gegenüber diesen Einrichtungen - insbesondere jenen, die den DDR-Antifaschismus „herabwürdigen", und denen, die aufgrund ihrer Geschichte sowohl an die Opfer des Nationalsozialismus als auch an die Opfer der sowjetischen Besatzung und der SED erinnern. Dorothee Wierling schildert differenziert „Attraktivität" und „Fallen" des Einsatzes von lebensgeschichtlichen Erzählungen in der Bildungsarbeit mit Erwachsenen. Quer zu den gängigen Meinungen im Erinnerungsdiskurs fordert sie dazu auf, grundsätzlich die Möglichkeit zu akzeptieren, dass sich Menschen aus Scham tatsächlich nicht mehr an bestimmte Ereignisse erinnern - sei es das Wissen von Verbrechen an der Ostfront während der Dienstzeit in der Wehrmacht oder Details der Spitzeltätigkeit für das MfS. Die an den allgemeinen Teil anschließenden Beiträge einer westdeutschen Teilnehmerin und eines ostdeutschen Teilnehmers belegen die These von Behrens und Wagner, dass sich die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit in Ost und West vor allem dadurch unterscheidet, dass es sich für die Ostdeutschen oft um ein Unterfangen von existenzieller Dimension handelt. Während diese Orte für ehemalige DDR-Bürger, wenn auch nicht für alle, Fragen nach dem eigenen Verhalten aufwerfen, sind Westdeutsche und Jugendliche ohne eigene biografische Erfahrungen mit der DDR trotz aller persönlichen oder familiär vermittelten Bezüge eher Zuhörer. Der ostdeutsche Historiker und Erwachsenenbildner Peter Steininger formuliert Fragen, die viele Ostdeutsche sich an jenen Orten stellen (S. 149): „Finde ich mich wieder? Ist das meine Geschichte? Wie habe ich das erlebt?" Doch unterscheidet sich der Blick auf diese Orte nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch innerhalb der jeweiligen Erinnerungskulturen. Dies zeigen die Beiträge, die sich ausgewählten Orten und Projekten widmen, unter anderem dem architektonischen Komplex im „ersten sozialistischen Dorf" Mestlin, für dessen stärkere Einbeziehung in die Bildungsarbeit Matthias Pfüller plädiert. Andere Beiträge behandeln die Gedenkstätte Münchner Platz in Dresden mit ihrer „doppelten Vergangenheit" und dem Erbe des DDR-Antifaschismus, die Gedenkstätte Bautzen oder das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt, um nur einige zu nennen. Mit Schulklassen und ihren Lehrern gibt es sehr unterschiedliche Erfahrungen, wie die Beiträge über das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig und das Projekt „Die DDR im Schulunterricht" in Mecklenburg-Vorpommern (Uta Rüchel/Martin Klähn) zeigen. Darüber, wie das von Beate Karow und Christoph Kleemann beschriebene Gemeinschaftsprojekt „Zivilcourage" als Beispiel für interaktives und multimediales Lernen von Schülern angenommen wird, gibt es leider noch zu wenig Erkenntnisse. Unterschiedliche Ansätze der Bildungsarbeit gibt es an vergleichbaren „Täterorten" wie dem Museum in der „Runden Ecke" Leipzig und der Forschungs- und Gedenkstätte Haus 1 in der Berliner Normannenstraße. Das Interview mit dem Leiter der letzteren, Jörg Drieselmann, gehört ohne Zweifel zu den Höhepunkten des Sammelbandes. Mit einer in der Erinnerungslandschaft zur SBZ/DDR-Vergangenheit wohl einzigartigen Konsequenz plädiert Drieselmann für die Ermutigung selbstständigen Urteilens, für die Einbeziehung von „Tätern" in die Bildungsarbeit und für Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Besucher. Dass der Sammelband die entstandene Vielfalt von Einrichtungen, Themen, Konzepten, Methoden und Erfahrungen mit Nutzern ausführlich dokumentiert, gehört zu seinen unbestreitbaren Pluspunkten. Das Buch regt zu weitergehenden Fragen an die Auseinandersetzung mit der SBZ/DDR-Vergangenheit, aber auch an den Umgang mit der NS-Vergangenheit an. Wie kann man die ostdeutschen Lehrer für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte gewinnen? Warum gibt es eigentlich kein Dokumentationszentrum „Alltag im Dritten Reich"? Warum wird das Potenzial von Orten wie der ehemaligen Raketenversuchsanstalt Peenemünde oder dem KdF-Bad Prora von der NS-Gedenkstättenszene nicht erkannt? Was können Initiativen an „Täterorten" des Nationalsozialismus und der SBZ/DDR voneinander lernen? Der Band ist Bestandsaufnahme, Nachschlagewerk, Problemanalyse und Erfahrungsbericht in einem. Ein Vertrieb über die Landeszentralen und die Bundeszentrale für politische Bildung wäre wünschenswert. Kritik ist kaum anzubringen, allenfalls Bedauern darüber, dass die Abbildungen zu klein sind und dass einige Orte fehlen, die offenbar nicht auf dem Seminarprogramm standen (wie zum Beispiel Hohenschönhausen, Buchenwald oder die eine oder andere Untersuchungshaftanstalt des MfS, zum Beispiel in Schwerin). Die beiden Herausgeber bilanzieren, dass an den besuchten Orten zwar ein umfangreiches Repertoire pädagogischer Methoden zur Anwendung komme, dass sich die Vermittlungs- und Aneignungsformen jedoch noch nicht zu einem eigenständigen Profil verdichtet hätten. Zielen die Einrichtungen eher auf moralische Verurteilung oder auf historisches Lernen? Was unterscheidet sie von den NS-Gedenkstätten? Welche Erfahrungen gibt es mit den Adressaten der Bildungsangebote? Es ist sicher richtig, dass der Grad der Selbstorganisation und die Diskussionen über das Selbstverständnis bei den Erinnerungsorten der DDR-Geschichte - auch wegen ihrer Ungleichartigkeit und kürzeren Existenz - noch nicht so weit fortgeschritten sind wie bei den NS-Gedenkstätten. Der Sammelband zeigt jedoch auf beeindruckende Weise, was in den vergangenen Jahren mit viel ehrenamtlichem Engagement aufgebaut wurde, und könnte zu einem verstärkten Nachdenken über genau diese Fragen anregen.
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