Feuer von Chaim Noll

Artikel-Nr.: 9783940426642
24,00

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Lesung und Gespräch mit Chaim Noll - Ein Israel -Abend.
19. Mai 2011 um 19.00 Uhr




...Chaim Noll arbeitet zurzeit an einem neuen Erzählband, indem er sehr anschaulich über das alltägliche Zusammenleben zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen in Israel berichtet.

Chaim Noll, ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Noll war Meisterschüler der Akademie der Künste. Anfang der 80er Jahre verweigerte er den Wehrdienst und wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Chaim Noll löste sich aus seinen Bindungen an Staat und Partei, was zugleich den Bruch mit seinem Vater nach sich zog. 1984 wurde Noll ausgebürgert. Im Westen, arbeitete er als Journalist und Schriftsteller. Von 1992 bis 1995 lebte er in Rom und Israel, wo er 1998 eingebürgert wurde. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays.

 

 

"Feuer", Chaim Nolls neuester Roman, beschreibt eine Gruppe verschiedener Menschen, die nach einer Katastrophe zusammenfindet. Sie werden durch das Unglück nicht zusammengeschweißt es gibt Missgunst, Hinterhältigkeiten, Drohungen. Dennoch müssen sie sich gemeinsam auf den Weg machen, um aus dem Katastrophengebiet herauszukommen, Rettung scheint nicht in Sicht, die Medien schweigen Ungemein spannend schildert Chaim Noll den Weg dieser Gruppe durch eine Gefahrenzone, zugleich bietet ihm das Thema die Möglichkeit, unsere heutige Medienwelt und das Miteinander der Menschen zu hinterfragen. "Feuer" ist ein ebenso kluger wie mitreißender Roman, den die Leserinnen und Leser so schnell nicht wieder aus der Hand legen werden. Über den Autor Chaim Noll, geb. 1954 in Ostberlin. Sein Vater ist der Schriftsteller Dieter Noll. Er verweigerte den Wehrdienst in der DDR. 1983 reiste er nach Westberlin aus, 1991 verließ er mit seiner Familie Deutschland und lebte in Rom. Seit 1995 lebt er in Israel. Feuer Von Chaim Noll Sie laufen seit Stunden durch einen Wald, der kein Ende nimmt, ein dünner, tröpfelnder Pulk, stumm und verzagt. Am Nachmittag beginnt es zu regnen und hört nicht mehr auf, die Kleider werden schwer. Sie laufen weiter durch Senken voll von vorjährigem Laub, schleppen sich erdige Hügel hinauf, steigen mühsam glitschige Böschungen hinab, versinken knietief in Gräben. Über den Wipfeln der Bäume immer das schreckliche Rot, trüb vom Regen, fleckig von Asche. Gegen Abend färbt sich der Himmel gelb, manchmal ein Donnern. Frau Silberblick rutscht an einem Hang auf modrigen Blättern aus und verdirbt ihr Kostüm. Das Mädchen in Grün weint über einen Schuh, dessen Absatz abgebrochen ist. Gegen Abend finden sie einen halbwegs trockenen Unterschlupf unter alten, hohen Eichen. Der Bischof und ein jüngerer Mann treffen Vorbereitungen zu einer Andacht, andere tragen Holz zusammen, suchen die Taschen ab nach Papier und Streichhölzern. Der Polizei-Offizier mit dem Schorf auf der Wange, der blonde Gymnasiast und der junge Mann in der Lederjacke kauern auf der Erde und blasen aus Leibeskräften in das zitternde Flämmchen. Professor Fink hat den Einfall, die Gesellschaft zu zählen. Er geht reihum: Striche auf einer Liste, siebzehn. Misstrauisch beginnt er den Rundgang von neuem, kommt zu dem selben Ergebnis, beruhigt sich. Der Mann in der Lederjacke und der Polizei-Offizier beratschlagen leise, dann wendet sich der Offizier mit der Frage an alle, ob jemand Lebensmittel bei sich hätte. Er sieht niemanden an. Zwei Tafeln Vollmilch mit ganzen Nüssen bei dem Mädchen in Grün, ein großes Lunch-Paket bei Frau Silberblick, der Mann im taubenblauen Anzug zeigt lächelnd ein mit Schinken und Salatblättern belegtes Baguette. Der kleine Junge, schwarzlockig, ungefähr fünf Jahre alt, den eine alte Frau in Schwarz mit sich schleppt, greift nach dem Brot. Die Bewegung wirkt so unmittelbar, dass alle lächeln müssen, auch das weinende Mädchen in Grün. Abgepackte Konfitüre, kleine Brotstücke und Butter in Folie finden sich bei den Finks, in Eile mitgenommen vom Hotelbüfett. »Wir waren nur zufällig in der Stadt«, sagt Fink, »weil unsere Tochter Gisela … « Er fühlt den Blick seiner Frau und verstummt. Der Mann in Taubengrau trägt alles zum Feuer, beschreibt mit dem Oberkörper einen Halbkreis, sagt: »Collande.« Darauf folgt allgemeines Murmeln von Namen, Ehepaar Fink, Frau Silberblick, der Bischof, sein Begleiter, der Offizier, der Mann mit den Fotoapparaten, das Mädchen in Grün und das Mädchen in Flieder, der Mann in der Tweedjacke, der Gymnasiast, der Mann im grauen Anorak, der wie ein Clochard aussieht, die irre lächelnde Rothaarige, die Alte mit dem Kind, alle murmeln Namen, die man im nächsten Augenblick vergessen hat. Der in der schwarzen Lederjacke schweigt. Der Polizei-Offizier mustert ihn von der Seite, mit verengten Augen. Ein Feuer wärmt ihre Herzen, lockert kalte Glieder, lässt vor Entsetzen erstarrte Gesichter einen weichen, kindlichen Ausdruck annehmen. Frau Fink ruft, ohne sich an jemanden zu wenden: »Haben Sie bemerkt, dass der Regen schwarz ist? Schwarz von Asche! Meine Jacke… « Es ist dunkel mittlerweile, alle hören den Bischof: »… dass du nicht erschrecken musst vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen des Tages, vor der Pest, die im Finstern schleicht … « Das Feuer brennt hell, Stimmen sind zu hören, sogar ein Lachen von Nadine, dem Mädchen in Grün. Sie lauscht einer Erzählung von Frau Silberblick: »Ich wollte den Wagen meines Mannes nehmen, weil meiner ein Cabrio ist. Aber die Garagentür ist elektrisch, sie ging nicht mehr auf! Ich komme mit den Koffern und sehe überall schwarzen Rauch… Wenn ich bloß wüsste, was aus den Hunden geworden ist … « »Na hören Sie! Manche hier haben Kinder verloren … « Eine Stimme aus der Dunkelheit, Frau Fink. Ihr Mann sieht sich zu einigen Gedanken veranlasst, über die Gleichgültigkeit unserer Zeit, die Unfähigkeit der Menschen, ihren Egoismus zu überwinden, selbst jetzt, angesichts einer Katastrophe. Er spricht eine Weile, ruhig, gemessen, daran gewöhnt, dass man ihm zuhört. Die Katastrophe als Gelegenheit zur Selbstfindung, zur Betroffenheit und Nachdenklichkeit, die wir sonst, im raschlebigen Alltag unserer modernen Welt… Gequältes Seufzen ist zu hören, sogar Zischen. Die blasse, rothaarige Frau lässt sich vernehmen, ihre Stimme klingt flach, atemlos: »Mein Gott, lassen Sie doch. Wir sind müde und brauchen Ruhe.« Fink kann jetzt nicht so ohne weiteres aufhören, er ist in Schwung geraten wie vor seinen Studenten, die Gedanken strömen ihm zu, es wäre schade, sie nicht auszusprechen. Und dann fragt er sich, und es wallt wie Trotz in ihm auf, wer eigentlich das Recht hat, ihm das Reden zu verbieten, ihm sein Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung streitig zu machen. Er ist ein Mann, dessen Rat man schätzt, im Beratergremium der Landesregierung, im Senat der Universität, im Redaktionskollegium verschiedener Fachzeitschriften. Er ist bereit, den Umständen Rechnung zu tragen und sich zurück zu halten, ein, zwei summarische Sätze noch, damit sein kleiner Diskurs nicht so unvermittelt endet. »Gut«, beginnt er, »ich verstehe, dass Sie müde sind, ich bin es auch, gestern war für uns alle ein schrecklicher Tag. Was ich zu verstehen geben wollte, war nur: Wir sollten diese Situation nicht ungenutzt lassen, sondern die ungeheure Chance begreifen, die in ihr liegt … « Der junge Mann in schwarzem Leder sagt halblaut, wie nebenher: »Halt endlich die Klappe.« (...)