Ausflüge im "Grotewohl-Express"

Artikel-Nr.: 978-3-92543-493-3
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Rainer Dellmuth

Ausflüge im "Grotewohl-Express"

Operativ-Vorgang "Lehrling" - Eine Jugend wird zerstört

 Rainer Dellmuths autobiographisches Buch über die Zeit seiner Überwachung und Inhaftierung durch die Stasi von 1966-1972 fordert zunächst einen ungeduldigen Leser, der sich auf die Mühen einer teilweise minutiös genauen Berichterstattung über den Lebensalltag eines Jugendlichen in der DDR der späten sechziger Jahre wirklich einlässt. Gerade die detaillierte Schilderung ist es dann aber, die den Leser tief in die Zusammenstöße des jungen Rainer Dellmuth mit dem SED-Staat hineinzieht: Als Leser fühlen wir uns auf der Seite des Opfers und nehmen mit-leidend und -hoffend an seinem Schicksal teil, und das in steigendem Maße, je stärker und verzweifelter wir ihn als jungen Menschen gegen einen übermächtigen Staatsapparat um seine individuelle Freiheitsrechte kämpfen sehen - wohl wissend, dass dies kein Roman, kein Politikkrimi und auch nicht die Story eines Kriminellen ist, sondern wir selbst. Wir sind wie das jugendliche "Ich" des Autors schockiert darüber, warum der Wunsch nach persönlichen Freiheitsräumen, warum unverhohlene Ehrlichkeit und warum witzig-pointierte Direktheit nicht sein dürfen, was sie sind.
Wir erleben - dank Dellmuths erstaunlich lebendiger Erinnerung an die ganz besondere Atmosphäre einzelner Begegnungen und Gespräche - , dass die politische Verfolgung des non-konformen Jugendlichen nicht erst mit dem Eingreifen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) beginnt, sondern schon als die Schere im Kopf jedes DDR-Bürgers, der zu unterscheiden "Gelernt" hat, was "man" sagen darf und was nicht. In diesem Sinne erweist sich der Berichterstatter und zweifach gescheiterte Republikflüchtling als nicht lernbereit, was ihn uns anhaltend sympathisch macht.

 Die Folge ist aber, dass er binnen weniger Jahre zweimal zu ein- bzw. zweijähriger Haft verurteilt wird und diese in einer ständigen Odyssee zwischen unterschiedlichsten Haftanstalten, Gefängnistrakten und -zellen abbüßen muss - oft ohne genau zu wissen, wo er sich letztlich befindet. "Ausflüge im Grotewohl-Express" - angespielt wird auf die oft endlos hinausgezögerte und für den Gefangenen verwirrende Verlegung in eine andere Haftanstalt in nach außen normalen, aber dennoch besonders präparierten Eisenbahnwaggons mit unbekanntem Ziel - ist insofern ein stark symbolträchtiger Titel, der Dellmuths Erfahrungen mit der Macht der Stasi insgesamt treffend einfängt. Denn dem Andersdenkenden seinen Stolz, seine Orientierung in Raum und Zeit und seine sozialen zu nehmen scheint das Ziel all ihrer zahllosen Einschüchterungsmethoden in und außerhalb der Gefängnismauern gewesen zu sein. Exemplarisch und in teilweise beängstigenden Wiederholungen schildert Dellmuth in allen Einzelheiten den Gefängnisalltag, der sich ein für allemal in sein Gedächtnis eingegraben hat: das Rasseln der Schlüssel, das Schlagen der Zellentüren, den Ablauf der Verhöre und die Stunden und Tage in der winzigen Dunkelzelle. Ausflüge im Grotewohl-Express ist sicher kein Buch, das nach literarischen Ansprüchen einen Nobelpreis gewinnen würde. Aber Dellmuth versteht es, den Leser für seine Erinnerungsarbeit gefangen zu nehmen und ihn gleichzeitig in einem ausgewogenen Maße zu informieren. Nach der mitreißenden Lektüre von Dellmuths Lebens- und Haftgeschichte bis zu seiner Ausweisung in die Bundesrepublik sollte der Leser nicht darauf verzichten, die Dokumente im Anhang des Buches zu studieren. Der Kontrast zwischen der zutiefst mitempfundenen Erlebniswelt eines Jugendlichen um 20 und der sachlich-nüchternen oder ideologisch-formelhaften Amtssprache in den angehängten Überwachungs- und Verhörprotokollen der Stasi macht deren "Operationen" in ihrer unmenschlichen Emotionslosigkeit in erschreckender Härte deutlich. Nicht zuletzt darum ist "Ausflüge im Grotewohl-Express" ein notwendiges und empfehlenswertes Buch.

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