Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart

Artikel-Nr.: 9783896033222
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Lilli saß klein und winzig am Fenster. Klein und winzig aber nur deshalb, weil Lilli im 21. Stockwerk eines Hochhauses wohnte, und da sieht ja jeder von unten klein und winzig aus, sofern man ihn überhaupt sieht.

Ansonsten war Lilli so groß, wie man eben mit zehn Jahren groß ist. Lilli saß seit einigen Wochen so am Fenster, denn sie hatte die Gelbsucht und durfte deshalb nicht zur Schule gehen.

Gelbsucht gehört zu den langweiligsten Krankheiten der Welt. Man darf nur Quark essen, fade Mehlsuppen und Tabletten, die nach Staub schmecken. Gelbsucht färbt den Menschen gelb und ist sehr ansteckend. Man darf also auch keinen Besuch bekommen. Deshalb gehört Gelbsucht zu den langweiligsten Krankheiten der Welt.

Lillis Eltern waren tagsüber arbeiten. Mama, eine schmucke runde Person mit sehr tiefer dunkler Stimme, arbeitete als Kellnerin in einem Café.

Und Papa Fünf baute Hochhäuser. Lilli (eigentlich hieß sie Liliane) war ein bisschen frühreif. Das hing mit den verschiedenen Vätern zusammen, die sie im Laufe ihres kleinen Lebens kennengelernt hatte.

Diese kamen als liebe Onkels, beschenkten Lilli mit Schokolade und mit Puppen und richteten sich nach und nach häuslich ein, indem sie ihre Pfeifen, Socken und Rasierpinsel in der Wohnung verstreuten und allmählich zu Papas wurden.

Aber die meisten blieben nie länger als ein Jahr.

Lilli kannte schon die Tragik des Abschiedes in der Liebe, denn Mama heulte jedes Mal jämmerlich und mehr als drei Tage, wenn wieder so ein Mannskerl, wie sie sagte, oder Onkel-Papa, wie Lilli sagte, das Weite gesucht hatte.

Denn Lillis Mama hatte kein Glück mit den Männern.

Vielleicht lag es daran, dass sie ein so überschäumendes Temperament hatte. Zum Beispiel schmiss sie, wenn sie sich ärgerte, gleich mit Schuhen oder Schüsseln.
Das haben Männer nicht gern.

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