Lebenswelt Revolution

Artikel-Nr.: horch 63
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Die Friedliche Revolution 1989/90 griff langfristig in ostdeutsche Biografien ein. Doch auch schon während des Umbruchs erlebten politisch aktive Menschen, wie die enorme Dynamik der Veränderungen sie in bislang unvorstellbare Situationen brachte, sie vor Entscheidungen stellte, ihnen neue Handlungsmöglichkeiten eröffnete oder auch Gruppenzugehörigkeiten und Verhaltensnormen in Frage stellte. Niemand hatte mit der Dynamik der Ereignisse gerechnet, weder die Minderheit Oppositioneller, noch die große Gruppe der Ausreisewilligen, Flüchtlinge und Unzufriedenen, deren bislang disparate Anliegen sich im Herbst 1989 zu einer großen Bewegung gegen das SED-Regime vereinten. Wie orientierten sich Einzelne, wenn sie „plötzlich“ als Führungsfiguren einer sozialen Bewegung adressiert wurden? Wie entschieden sie, vor die Wahl gestellt, an Demonstrationen mit ungewissem Ausgang teilzunehmen? Was bewog sie, Verantwortung in der sich formierenden Zivilgesellschaft zu übernehmen? Wie erging es ihnen, wenn sie in bislang unhinterfragbaren Positionen und starren Strukturen sich erstmals rechtfertigen mussten oder auch ungewohnten Gestaltungsspielraum bekamen? „Lebenswelt“ verstehen wir hier pragmatisch breit als das Selbstverständliche, die Basis des Alltags-Funktionierens menschlicher Gemeinschaft. Selbstverständlich sind die Autoren aber eingeladen, sich ggf. für Ihren Beitrag differenziert zu den unterschiedlichen Begriffsverwendungen in Philosophie, Soziologie oder Geschichte zu positionieren. Uns interessiert: Was für einen „Alltag“ erlebten die Menschen in der so völlig unalltäglichen Revolution? Welches Verständnis ihrer Selbst und der Gesellschaft entwickelten und verwarfen sie, als in rascher Folge eine Selbstverständlichkeit nach der anderen zunächst als öffentlich hinterfragbar und schon kurz darauf als veränderbar erlebt wurde? Neben Analysen will HORCH UND GUCK auch Erinnerungen an die Krisen- und Umbruchszeit 1989/90 zur Diskussion stellen. Aspekte, die oftmals eher als Kuriosum am Rande thematisiert werden, sollen ins Zentrum rücken und auf ihre Bedeutung befragt werden. Da ist das Gründungstreffen des „Neuen Forum“ im September 1989, deren Teilnehmer sich zu einem zweiten Treffen im Dezember verabreden: ein Hinweis auf die Unvorstellbarkeit der historischen Rolle, die das „Neue Forum“ spielen sollte. Wie wirkte die Sprengung vertrauter Vorstellungsrahmen auf das eigene Handeln zurück? In welchem „Alltag“ galt es nun Verbündete zu finden, Lücken in infrastrukturellen Voraussetzungen des Handelns zu stopfen und Weltbilder zu revidieren? Da sind die Vertreter neu gegründeter Parteien, die mit westdeutschen Politikern zusammentreffen und in Habitus, materiel-ler Ausstattung und Verhandlungserfahrung aus einer völlig anderen, sich zudem gerade auflösenden Welt kommen. Wie finden sie sich in den fremden Selbstverständlichkeiten des Westens zurecht? Da ist der Morgen des 10. November 1989, an dem Millionen ihren Alltag Richtung Westen verlassen. Da sind die Stasi-Besetzer der ersten Stunde – etwa die Frauen, die eben noch das Kind zu Bett bringen, um dann zum bislang gefürchteten Sitz des MfS zu eilen und die Machthaber unter Druck zu setzen. Da kooperieren in Gremien, am Rande von Demonstrationen oder auf den überfüllten Autobahnen gen Westen plötzlich Menschen, die sich sonst niemals begegnet wären. Gleichzeitig werden ungeahnte Differenzen offenbar zwischen denen, die sich bislang in „innerer Emigration“ oder in Opposition zur Diktatur vertraut waren. Der Wandel 1989/90 bedeutete immer auch gewandelte Handlungsmöglichkeiten und mithin Sinnsetzungen. Wenn ein wesentliches Ziel menschlichen Daseins sinnvoll verbrachte Zeit ist, so bot die Friedliche Revolution die Erfahrung komprimierter Lebendigkeit. So sind wir auch neugierig auf Reflexionen darüber, wie viel davon nachscheint in den Alltag der Gegenwart.
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